Forscher am Massachusetts Institut of Technology (MIT) haben eine Medizintechnik entwickelt und in Tierversuchen getestet, die allen Diabetikern, die Insulin spritzen müssen, Erleichterung verschaffen könnte. Um zu verstehen, wie dieses Medizinprodukt funktioniert, ist es wichtig, sich zuerst mit dieser Erkrankung zu befassen.
Diabetes mellitus, eine folgenreiche Krankheit
Diabetes mellitus ist eine der am weitesten verbreiteten Erkrankungen weltweit, vor allem in den Industrieländern. Ihr Name bedeutet wörtlich übersetzt „honigsüßer Durchfluss“ und leitet sich von einem ihrer Hauptsymptome ab, dem Ausscheiden von Zucker im Urin. Schon Ärzte in der Antike konnten diese Tatsache durch Geschmacksproben zur Diagnostik verwenden. Diabetes, häufig auch Zuckerkrankheit genannt, ist grundsätzlich eine Stoffwechselerkrankung, die durch eine Störung der Insulinaktivität hervorgerufen wird. Insulin ist ein Hormon, das in den β-Zellen der Bauchspeicheldrüse produziert wird und bei einem Anstieg des Blutzuckers ins Blut abgegeben wird. Dort ist es primär dafür zuständig, dass Glukose, die durch den Kohlenhydratstoffwechsel entstanden ist, in die Zellen aufgenommen wird, um dort zur Energiegewinnung genutzt zu werden. Es funktioniert als Transmitter, dockt an Rezeptoren in den Zellmembranen von Muskel- und Fettzellen an und veranlasst die Öffnung der Zellkanäle, durch die die Glukosemoleküle ins Zellinnere geschleust werden. Dieser Mechanismus kann auf zwei verschiedenen Wegen gestört sein. Beim Diabetes Typ 1 liegt ein absoluter Insulinmangel vor. Er wird als Autoimmunkrankheit aufgefasst, die oft schon im Kindes- oder Jugendalter auftritt. Die körpereigene Immunabwehr greift die Insulin produzierenden Zellen in der Bauchspeicheldrüse an und zerstört sie. Das hat zur Folge, dass zu wenig oder kein Insulin produziert wird. Dadurch kann Glukose nicht in die Zellen aufgenommen werden und verbleibt im Blut, der Blutzucker steigt. Die Krankheit ist nicht heilbar, was für die Betroffenen bedeutet, dass sie Insulin ihr Leben lang ersetzen müssen, in der Regel durch Spritzen.
Beim Diabetes Typ 2 ist die Empfindlichkeit der Zellrezeptoren gestört, die für die Aufnahme von Glukose zuständig sind. Sie reagieren zunehmend unempfindlich auf die Signale, die Insulin vermittelt. Sie öffnen die Kanäle in den Zellen nicht, weniger Glukose gelangt in die Zellen und verbleibt im Blut, der Blutzuckerspiegel steigt. In der Folge reagiert die Bauchspeicheldrüse kompensatorisch, indem sie mehr Insulin produziert. Auf Dauer führt das auch zur Schädigung der β-Zellen und damit zu einem Insulinmangel. Diabetes Typ 2 entwickelt sich in der Regel viel langsamer als Typ 1 und bleibt in den Anfangsstadien oft unbemerkt. Er kann bei einer frühen Erkennung gut kontrolliert und behandelt werden. Dafür ist oft schon ein gezieltes Gewichtsmanagement in Verbindung mit Bewegung ausreichend. Mit fortschreitendem Insulinmangel kommen dann auch medikamentöse Therapien zur Anwendung, unter Umständen auch durch Injektionen.
Methoden der Insulingabe
Die Insulingabe erfordert von den Erkrankten viel Disziplin und Sorgfalt, die viele Patienten trotz vorheriger Aufklärung und Schulung nicht aufbringen. Obwohl mit dem Insulinpen heute eine deutlich einfachere Möglichkeit für die Insulingabe zur Verfügung steht als früher, werden immer noch wichtige Regeln vernachlässigt. Mangelnde Hygiene durch fehlende Desinfektion der Haut oder die mehrfache Verwendung der gleichen Spritze kann zu Hautirritationen und Infektionen führen. Stimmt die Einstichtiefe nicht, wird das Unterhautgewebe nicht erreicht und die Aufnahme des Wirkstoffes beeinträchtigt. Viele Patienten vergessen auch, dass sie die Einstichstelle jedes Mal wechseln sollten. Die Folge kann sein, dass sich das Gewebe in dem Bereich verdickt und die Resorption verlangsamt wird. Zu schnelles Einstechen oder Herausziehen der Nadel kann zu blauen Flecken führen. Im Gegensatz zu früheren Zeiten, in denen das Insulin noch aufgezogen und anschließend gespritzt werden musste, hat der Insulinstift den Diabetikern das Leben schon deutlich erleichtert. Das macht sich besonders auf Reisen bemerkbar, weil nicht mehr so viel Equipment mitgeschleppt werden muss. Für Diabetiker, die Insulin hoch dosiert injizieren müssen, stehen auch Insulinpumpen zur Verfügung, die ähnlich wie die Bauchspeicheldrüse rund um die Uhr kleine Insulindosen abgeben. Die Pumpe tragen die Betroffenen in der Regel am Hosenbund. Sie ist mit einem dünnen Schlauch mit einer Kanüle verbunden, die meistens unter der Bauchdecke liegt. Über diesen Weg gelangt das Insulin direkt ins Unterhautfettgewebe und kann schnell resorbiert werden. Manche Anwender empfinden es als belastend, dass das Gerät 24 Stunden angeschlossen ist, obwohl es für Außenstehende nicht sichtbar ist. Genau wie beim Pen können Irritationen, Infektionen und Allergien auftreten. Eine problematische Komplikation entsteht, wenn das Gerät unbemerkt ausfällt. Da die Pumpe nur kurzfristig wirkendes Insulin liefert, besteht die Gefahr einer unter Umständen lebensgefährlichen Ketoazidose.
Die Entwicklung aus Massachusetts könnte die Lösung für alle Probleme sein, die in Verbindung mit Insulinpens und -pumpen auftreten.
Bisherige Forschungsansätze
Schon früher hatten Wissenschaftler versucht, die Benutzung von Insulinpens durch eine schonendere Medizintechnik zu ersetzen. Das Hormon einfach in eine Pille zu packen und zu schlucken, kam als Lösung nicht infrage. Insulin wird wie andere Eiweißverbindungen im Magen zersetzt und schließlich im Darm verdaut. Ein Team der Harvard John A. Paulsen School of Medicine in Cambridge hat für diese beiden Probleme eine Lösung gefunden. Sie verpackten das Medikament in eine magenresistente Hülle, die sich erst im basischen Milieu des Dünndarms auflöst. Um die Zersetzung in einzelne Aminosäuren zu verhindern, wurde das Insulin mit Cholin und Germaniumsäure aufbereitet. So konnte es unbeschadet die Dünndarmschleimhaut passieren und gelangte schließlich ins Blut. Die Methode hat allerdings einen Nachteil, an dem die Forscher noch arbeiten. Die Schleusermoleküle können das Insulin nur langsam durch die Schleimhaut bringen und der Vorgang kann durch Verdauungsvorgänge von Nahrungsbestandteilen beeinflusst werden. Das bedeutet, dass es lange dauert bis es bioaktiv zur Verfügung steht und das die Dosierung schwierig ist. Für Diabetiker kann es aber lebenswichtig sein, Insulin schnell und in der richtigen Dosis im Blut zu haben.
Andere Forscher haben mit Microneedles experimentiert. Dabei werden Trägerkissen mit kleinen medikamentenbesetzten Nadeln an der Unterseite auf der Magenwand verankert. Diese Anordnung gewährleistet, dass das gespeicherte Insulin langsam und stetig abgegeben wird. Allerdings hat sich auch diese Medizintechnikbisher nicht als erfolgreich erwiesen, weil die Streuverluste zu hoch sind. Die Flüssigkeit im Magen schwemmt einen Teil der Wirkstoff weg. Damit ist eine sichere Dosierung nicht möglich.
Was eine Schildkröte mit Insulinspritzen zu tun hat
Die Wissenschaftler des MIT sind angetreten, um endlich ein sicheres und verlässliches Medizinprodukt zu entwickeln, das Diabetespatienten das Leben erleichtert. Herausgekommen ist eine spezielle Medizintechnik, die das lästige Spritzen von Insulin durch eine orale Verabreichung ersetzt. Die Grundlage der Entwicklung ist eine blaubeergroße Kapsel, die wie eine Tablette geschluckt wird. Ihre Hülle ist fest und besteht aus einem Gemisch aus abbaubaren Polymeren und Edelstahlkomponenten. Im Inneren befindet sich eine Nadel mit dem gefriergetrockneten und komprimierten Insulin. Sie ist an einer gespannten Feder befestigt, die, Ironie des Schicksals, durch eine Zuckerscheibe in ihrer Position gehalten wird. Nach dem Schlucken wird der Zucker durch den Magensaft aufgelöst. Die Feder wird frei und drückt die Nadel in die Magenwand, wo das Insulin abgegeben und resorbiert wird. Diese Prozedur ist von den Patienten nicht zu spüren, da die Magenwand keine Schmerzrezeptoren enthält. Die Reste der Kapsel lösen sich anschließend vom Magen, durchwandern den Verdauungstrakt und werden problemlos ausgeschieden.
Eine besondere Herausforderung bei der Entwicklung dieses Medizinproduktes stellte das Problem der richtigen Platzierung dar. Die Kapsel sollte trotz der glatten Umgebung und der Peristaltik so sitzen, dass die Spritze zur Magenwand zeigt.
Eine Voraussetzung für das Gelingen dieses Vorhabens haben die Wissenschaftler durch die relativ schwere Stahlkonstruktion mit einem tiefen Schwerpunkt gelöst. Dadurch landet die Kapsel nach der Ankunft im Magen der Schwerkraft gehorchend mit der Basis immer auf dem tiefsten Punkt des Organs und wird nicht rausgespült. Das zweite Problem bestand darin einen Weg zu finden, wie sie sich wieder in die richtige Position bringt, wenn sie durch Magenbewegungen oder Lageveränderungen des Körpers umkippt. Die Lösung haben sich die Wissenschaftler von der Natur abgeschaut. Sie haben die Kapsel dem Körperbau der Leopardenschildkröte nachempfunden. Ihr Körper ist im Schnittbild wie ein Ellipsoid geformt, das oben spitz zuläuft und eine breite Basis hat. Mit Hilfe dieser Konstruktion kann sich die Schildkröte immer wieder aufrichten wie ein Stehaufmännchen, wenn sie mal auf dem Rücken landet. Der gleiche Mechanismus funktioniert auch bei der Kapsel.
Ergebnisse
Sobald die Nadel in die Magenwand injiziert ist, löst sich das Insulin mit einer Geschwindigkeit auf, die von den Forschern durch die vorherige Präparation variiert werden kann. In der Versuchsanordnung dauerte es eine Stunde, bis das gespeicherte Insulin komplett ins Blut abgegeben wurde. Im Verlauf der Versuchsreihe konnten die Forscher die Insulindosis bis auf 5 mg steigern. Das entspricht der Menge, die sich ein Patient mit Diabetes Typ 1 normalerweise spritzt. Der Abtransport der leeren Kapsel über den Verdauungstrakt verursachte keinerlei negative Auswirkungen. Wissenschaftler feiern diese Methode als revolutionäres Medizinprodukt und als Durchbruch für die orale Gabe von Insulin, aber auch für andere Arzneimitteln, die bisher gespritzt werden mussten. Zukünftig könnte sie die Lösung für jegliche Verabreichung von Proteinmedikamenten sein, die wegen der Zersetzungsgefahr bisher nicht über den Mund eingenommen werden konnten. Das würde nicht nur Diabetikern, die bisher Spritzen oder Insulinstifte benutzen mussten, das Leben erleichtern. Auch Patienten mit rheumatoider Arthritis, chronisch entzündlichen Darmerkrankungen oder anderen Autoimmunerkrankungen würden davon profitieren. Sie müssen sich regelmäßig Immunsuppressiva injizieren, die wie Insulin eiweißhaltig sind und den Verdauungstrakt nicht schadlos überstehen würden. Schon im Verlauf der Studie haben die Wissenschaftler eng mit Novo Nordisk zusammengearbeitet, einer Firma aus der Medizintechnik, die die Studie mitfinanziert hat. Diese Kooperation wird nach der Studie fortgeführt, mit dem Ziel, die Technologie weiter zu entwickeln und das Herstellungsverfahren zu optimieren.
Fazit
Für Patienten, die an Diabetes leiden und einen Insulinmangel haben, sind tägliche Injektionen mit Insulin Teil ihres Alltags. Diese Prozedur ist für die meisten eine lästige, unangenehme aber lebensnotwendige Pflicht. Sie geht häufig mit Komplikationen einher, die meistens auf die unsachgemäße Anwendung zurückzuführen sind. Nachdem frühere Versuche mit Microneedles oder gecoverten Pillen keine befriedigenden Ergebnisse zeigten, konnten die Forscher des Massachusetts Institut of Technology ein Medizinprodukt vorstellen, das die Lösung für die Probleme bei der Insulingabe sein könnte. Die orale Gabe von Insulin erleichtert das Management der Insulineinnahme deutlich. Ein Päckchen mit Pillen ist das Einzige, was die Patienten zur Therapie brauchen. Das erleichtert das tägliche Leben, macht Reisen einfacher und verschafft mehr Lebensqualität.